Montag, 14. November 2011


 
Bertha an Bord  (1956)
– in manchem eine Fiktion – oder eine Vision?



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ein Linolschnitt von Wolfgang Vogt, Strande


. . .  Wechsel der Uni, zurück in den Norden. Frieda will erst ein Semester später kommen, zum Winter.  Habe viel Sehnsucht nach ihr. Doch es gibt noch mehr Mädchen auf der Uni. Zum Beispiel Bertha, Bertha ist auch anders als die anderen – doch wieso sage ich sowas? Ich kenne doch kaum welche. Trete einem Segelverein bei, wir segeln in Nord- und Ostsee, und ich höre, daß unser Schiff in Danzig gebaut worden ist und auch schon zwei mal über den Atlantik gesegelt wurde. Eine neue, eher kleine Reise ist geplant, Kattegatt und Skagerrak. Nach einem Jahr Studium in dieser Stadt.

Die Freunde schleppen Kartons mit Verpflegung auf den Anleger und stapeln sie auf. Unser Segelschiff liegt vertäut an der hölzernen Brücke und bewegt sich leise, wenn einer der kleinen Hafendampfer rauschend vorüberkommt, die die einzelnen Stadtteile verbinden. Einige dieser Dampferchen sind dunkelblau angemalt mit weißen Aufbauten, andere weiß mit gelben Aufbauten. Doch schwarz ist der Rauch beider Sorten, und ihr Rauschen ist auch gleich – die Fördedampfer, sie haben dieselbe Aufgabe wie sonst die Stadtbuse.


An Bord stehe ich und sage, wo die Kartons gestaut werden sollen. Das Schiff ist eine große Segelyacht und heißt „Peter“ und gehört dem Studenten-Segelverein, dem ich seit einem Jahr angehöre. Eine Art studentischer Verbindung. Das Schiff ist eine Yawl, also mit zwei Masten, 18 m lang und 2 ½ m tief. Vielleicht finde ich noch ein altes Foto. Ach ja, unten.


Wir sind acht Studenten und wollen für drei Wochen durch das dänische Inselmeer nach Norwegen segeln. Alle sind wir Männer, denn nur Männer fahren zur See, das ist so selbstverständlich, daß wir nie darüber gesprochen haben, war schon immer so.


Zehn Männer könnten mitreisen, doch nur acht haben sich gefunden, und so geht´s auch, wenn auch mit ein wenig mehr Arbeit.


Noch immer stehe ich an der Reeling, kann kaum mit-tragen, denn meine Beine sind durch eine alte Krankheit geschwächt. Da bemerke ich, daß da auf der Pier eine große, junge Frau mit ihrem Fahrrad steht und die ganze Zeit zusieht. Sehnsucht ist in ihren Augen, ich merke, sie möchte das Schiff ansehen. Ich lade sie ein, herüber zu kommen, doch sie sagt „nein, nicht einfach ansehen und wieder gehen, das ist es nicht.“ – „Willst du etwa mitsegeln?“ – „Ja, was sonst.“ – „Wir können noch zwei Mitsegler unterbringen, komm herüber und wir fragen die anderen.“


Sie lehnt ihr Fahrrad an einen Laternenmast und klettert über die Reeling. Später sieht sie sich alles an und lässt sich erklären. Ich merke, für manche Leute ist so ein Schiff sehr verwirrend, doch es gelingt mir, ihr die Logik von allem schnell aufzudecken.


Wir sitzen zusammen im Cockpit und alle sind dafür: wir laden Bertha ein, mit uns zu reisen – obwohl das so ungewöhnlich ist. Wir kennen es nicht, daß Frauen mitreisen und müssen erst  über einige alte Denkgewohnheiten springen. Sie fährt schnell in ihre Bude und rüstet sich aus, und wie sie wiederkommt sind wir sehr erstaunt, sie hat ihr langes schwarzes, schlichtes Kleid anbehalten, Hosen? „nein, Hosen nie, ich habe gar keine, nur Röcke und so. Das muss ich wohl erst noch klar machen, ich bin eine Frau und will die Seefahrt und die Meere von der Frauseite her kennen lernen.“


Um Mitternacht schließlich ist alles erledigt, der Zoll war an Bord und hat uns ausklariert. Trübes Wetter. Drüben auf der anderen Seite der Förde hämmert es von den großen Schiffswerften, auch das müssen wir Bertha erklären, sie will alles erfahren. Sie sagt, „erst seit vier Wochen bin ich hier in dieser Stadt, das erste Mal so weit weg von der Heimat, dem Vogelsberg, bei Fulda etwa. Will hier studieren, Geographie und sowas. Kann man das mit Meeresgeographie verbinden? Möchte ich gerne, die Meere sind so was von geheimnisvoll für mich. Und all die Vulkane in den Ozeanen – der Vogelsberg ist auch ein alter Vulkan, deswegen . . .“


 „Selbstverständlich, da ist der Professor Dietrich zum Beispiel, der weiß da am meisten, ach nein, der Professor Wüst ist älter und weiß noch mehr,“ erkläre ich. Wir räumen die Verpflegungskartons aus und alles in die Chaps und Schränke. Dabei hält Bertha zurück, was wir zum Abendessen brauchen, „ich werde mich einführen, indem ich das Abendbrot mache, klar?“ sagt sie lachend in ihrer hessischen Sprech-Musik. Wir haben keine Einzelkabine für Damenbesuch, also muß sie mit uns in einer der Vierer-Kammern schlafen, was in Ordnung ist, sagt sie.


Wir alten Kieler unter uns erklären, daß da drüben auf einer der zerstörten Werften die großen Kriegsschiffe gebaut wurden, auch der sogenannte „Schwere Kreuzer Blücher“, über den wir auf unserer Reise noch hinfahren werden.


Wir Jungs sind alle verwundert über ihre Art – Frau, und doch mit männlichen Allüren, die zur Seefahrt nötig sind. „Habt ihr mal ein Takelmesser für mich?“ – „Und wer zeigt mir mal die wichtigsten Knoten?“ – „Wie bekommt ihr so eine Seilverbindung, daß eine Schlinge entsteht?“ (einen Aug-Spleiß meint sie). Da wollen alle eifrig sein, und sie sucht sich einen aus, ich bin noch zu unbefahren, und ich weiß auch nicht, ob ich ihre Wahl gewesen wäre, vielleicht noch zu jung mit meinen 20, noch ganz glattes Gesicht, eine Frau will doch mehr, denke ich und sehne mich nach Frieda und meine Augen  werden feucht. „Sieh mir mal in die Augen, Tränen darf man nicht verstecken, die sind so was Schönes und Menschliches. Wenn du sie versteckt, bekommst du nur Psychosen.“ Mit ein paar Worten erwähne ich meine Liebe zu Frieda. Da bekommt sie auch ein paar Tränen, und wir lachen wieder zusammen, die anderen sind erstaunt, manche drehen sich um, Verlegenheit.


Also Mitternacht etwa, wir heißen die Fock und drehen das Schiff weg von der Pier in das Fördewasser. Besan hilft dabei, damit der Dreh nicht zu scharf wird. Dann Heißen des riesigen Großsegels, das erlebe ich so direkt das erste Mal auf dem „Peter“, habe bisher nur daran gearbeitet, in einer Segelmacherei etwas gelernt. Zuerst beugt sich das Schiff ein wenig nach Lee, wo der Wind hinweht, und nimmt langsam Fahrt auf in Richtung Ostsee, das Wasser rauscht und plätschert leise an der Außenwand. Bertha bringt ein Tablett raus mit belegten Broten, der Schiffer holt eine Flasche Rum aus seiner Aktentasche und begrüßt den Neptun, daß er möge stets geruhn, uns zu schützen vor Gefahr und so was, singen wir dazu, und er gibt dem Neptun den ersten Schluck auf die Luv-Seite, „alte Gebräuche,“ sage ich. „Oh ist das schön,“ sagt Bertha, „ich zittere innen richtig saß ich hier mit euch mitreise. Uralte Wünsche seit meiner Kindheit da oben in dem einsamen Bergdorf zwischen den Schafen. Nachdem mir mal jemand ein alt-verschlissenes Buch über Seefahrt geschenkt hat.“ Sie umarmt jeden und bedankt sich.


„Wo segeln wir zuerst hin?“ „Unser erster Hafen soll Anholt sein, eine kleine Insel im Kattegat. Doch erstmal wollen wir das Segeln genießen, die Seefahrt. Wir machen´s langsam. Durch den Großen Belt,“ und zeigen ihr die Seekarten und alles was dazugehört.



Aber es wird anders: einer von uns bekommt am nächsten Tag plötzlich eine Bauchentzündung, wahrscheinlich eine Blinddarmreizung, und wir wollen schnell in einen Hafen und wählen Bagenkop in Dänemark, weil wir dort einen Arzt kennen, Dr. Lars Remvige. Nach Kiel zurückfahren wäre nicht gut, denken wir. Das ging auch, doch die Einfahrt in diesen kleinen Hafen für Fischkutter ist abenteuerlich, und man fährt nicht schon am Anfang einer Reise wieder zurück.


Der Wind kommt direkt von achtern, weht direkt in die Hafeneinfahrt hinein, wir drehen draußen zuerst einen Kreis und beobachten den Hafen mit dem Fernglas. Alles voller Kutter, an den Masten können wir es sehen, doch wir müssen rein, und außerdem reizt uns das Manöver und unser (meins auch?) Können. Unser Schiffsführer, Günther, nimmt die Verantwortung auf sich. Da ist eine Pier, die scheint von Schiffen leer zu sein, direkt links neben der Einfahrt. Also alle Segel runter und vor Topp und Takel, vor dem Wind, der uns langsam, verlangsamend, nur über die Masten antreibt, hinein. Im Hafen gibt es keinen Platz um zu drehen und gegen den Wind aufzuschießen. Also müssen wir wie ein Dampfer, der ja seinen Rückwärtsgang benutzen kann, bremsen, aber das kann dieses Schiff ja nicht, hat keinen Motor.


Einer steht am Heck und hält eine Pütz am langen Seil, als Bremse; sechs stehen mit zwei Leinen in den Händen an der Backbordseite, wo wir anlegen wollen. Der Schiffer steht in ganz gespannter Aufmerksamkeit am Ruder. Bertha volle Hingabe und Erstaunen über diese Art von Schifffahrt steht neben ihm. Das Schiff wird langsamer, im Hafen lauter Zuschauer, die das ebenso merkwürdig finden wie Bertha. Der Schiffer steuert uns dicht an die Pier, „Jetzt!“, zwei Leute springen und legen die Leinen über Poller auf der Pier, die vier an Bord wickeln sie einmal um Winschen (Poller) an Bord und lassen sie, bremsend, schleifen. Das Schiff steht, parallel zur Pier, lautes Händeklatschen im Hafen.


Aufatmen an Bord! Bertha geht und holt die Rumflasche: „Neptun hat uns SEHR beschützt!“ vermutet sie, „aber ihr alle auch.“ – „Und besonders du als unser Schutzengel, wie gut, daß wir dich mitgenommen haben.“ Der Blinddarmmensch, er hatte die Pütz am Heck gehalten, geht zu Dr. Remvige, kommt nach einer Stunde zurück und meint, da sei nichts Besorgniserregendes im Bauch. „Wir können weiterfahren.“ Der Schiffer, Günther stimmt zu.


Von einem Kutter lassen wir uns gegen den Wind rausschleppen, geben dem Fischer zwei Flaschen Balle-Rum.



Die Südspitze der Insel Langeland gerundet und in den Großen Belt gefahren, Richtung zu der Enge zwischen den beiden Inseln Fyn und Sjælland, wo in der Mitte die kleine Insel Sprogø liegt. Da steht ein lustiger Leuchtturm, rot-weiß geringelt, und eine alte Festung. Wo der starke Fährverkehr höchste Aufmerksamkeit erfordert – großen Abstand halten zwischen den Fährbooten – große und schnelle Dampfer.

Noch in der südlichen Einfahrt in den Belt frischt der Wind auf und dreht auf Nordwest, in Böen ist er noch nördlicher. Das Schiff legt sich auf die Steuerbordseite, und Wasser spritzt an Deck. Bertha ist begeistert und juchzt wie ein Kind. Die Segel sind steif und die Luv-Wanten auch, gespannt wie Cellosaiten (ein Mitfahrender, Peter, spielt Cello und bringt den Vergleich). In Lee wird das schöne, fast weiße Holzdeck vom Seewasser gewaschen und gebleicht. Ein wenig stöhnt der eiserne Schiffsrumpf – das ist Seefahrt! Bertha lacht, „sowas für mich Schafshirtenkind!“. Sie sitzt gerade im Cockpit und lässt ihre dunklen, langen Haare fliegen. Dabei zieht sie ihre schwarzen Strümpfe hoch und erinnert mich daran, daß ich unsere Segelkleidung beschreiben wollte. Aus den früheren Geschichten erinnert ihr euch ja meiner Freude an langen Strümpfen – mein  Hobby. „Wie machst du es, daß deine Strümpfe nicht rutschen?“ „Na eben, hochziehen,“ lacht Bertha, „und sieh, hier habe ich ein Gummi ums Bein geschlungen ...“ Ich erinnere mich an alte Fotos, wo die Frauen und Kinder auch so ein Strumpfband hatten, manche verziert.

Der „Peter“ bewegt sich und passt die Bewegungen an die Wellen an – doch hier unter Land gibt es keine großen Wellen. Ab und zu spritzt es von Luv an Deck.

Wir Jungs tragen Takelhosen, das sind schwarze Latzhosen mit sehr breiten Hosenbeinen. Der Latz nur von unten bis zum Gürtel; oben eine derbe Takelweste in  weiß, mit einem Tuch am Rücken, das der Wind ab und zu hochbläst und das so den Nacken schützt. Um den Hals eine weiße geflochtene Schnur, daran ein  Messer, eben das Takelmesser, in der Tasche. Auf dem Kopf eine Pudelmütze, Günther als Schiffer eine Schirmmütze – alles fast wie eine Uniform, doch so sind manche Segler. Schuhe? Turnschuhe mit besonders gut haftenden Sohlen: Segelschuhe, damit das Deck nicht verletzt wird und wir guten Halt bekommen.

Bertha aber hat ja ihr ebenfalls schwarzes Kleid an, sie nimmt den langen, Kleiderrock hoch bis über die Knie und nimmt die Strumpfränder zwischen die Finger, zieht alles wieder zurecht, stramm nach oben. Oberhalb der Knie hat sie die Strümpfe umgerollt und mit den Strumpfbändern befestigt, ein  breiter Gummibandring, der etwas spannt, und der um den Schenkel geschlungen ist. „Das haben wir so im Vogelsberg, recht altmodisch, alle haben wir das so, . . ."


Bertha´s kleiner Bruder im Vogelsberg

". . .  hier ist mal ein Foto von meinem Brüderchen. Und die Wolle stammt von unseren Schafen. Fast alles, was wir am Leib tragen, stammt von den Schafen. Schafe sind unser Leben. Doch nun bin ich dem ja mal entflohen.“ Nach etlichen Stunden, am nächsten Tag kommen wir aus dem Großen Belt wieder raus und in das Kattegat und erreichen die Insel Anholt. Bertha: „Ich wusste nicht, daß das Meer so weit sein kann – doch wie ich auf die Seekarte sehe, sind wir hier immer noch in einer Art Binnensee. Erstaunlich dieser weite Blick!“

Vorsichtig nähern wir uns der Insel, doch diese Einfahrt ist einfach, und wir legen an. Es ist Abenddämmerung, und nun geschieht etwas nie Gesehenes – so ist diese Reise! Auf der Pier stehen Straßenlaternen, da kommt ein Mann mit einer Leiter und allerlei Werkzeug, klettert an jeder Lampe hoch und zündet sie an. Der altbekannte Laternenanzünder, aber noch nie gesehen, nur in Märchenbüchern. Bertha und ich gehen auf der Pier spazieren und sehen uns andere Schiffe an. Hand in Hand, und das ist so etwas Besonderes mit dieser Frau . . . Wir werden die ganze Nacht Leinenwache haben und wachbleiben, müssen deswegen um 11 Uhr wieder an Bord sein. Doch jetzt lässt der Schiffer uns beide erstmal gehen, die anderen klaren das Schiff auf und einer kocht Nudeln (unsere Vorliebe für Nudeln zeigt, wie nahe wir noch der Kindheit sind, fast alle Anfang 20, außer Olaf und Axel).

Rechts vom Hafen gehen wir an den Strand, „ich will mal sehen, was da so angeschwemmt ist, Muscheln oder gar Bernstein?“ Doch Steine, Kiesel, ein paar rund und matt geschliffene Glasscherben und Ziegelsteine. Bertha zieht sich Schuhe und Strümpfe aus und geht ins Wasser, doch da ist auch nicht mehr zu finden. Ich halte ihre Sachen, und Bertha´s Strümpfe zu halten ist ein besonderes Erlebnis. Da kommt aus einem Kinderheim in den Dünen eine Schar Kinder angerannt, nackt und stürzt sich ins Wasser. Bertha zieht sich ihr Kleid und einen Unterrock auch aus und rennt hinterher, juchzend wie die Kinder. Nun halte ich alles, damit die Sachen nicht sandig werden.

Hinterher wird es bald fast dunkel, Mondschein, die Kinder sind wieder im Heim, und wir gehen weiter am Strand südwärts. Es glitzert etwas am Wasserrand, eine angeschwemmte Coca Cola-Flasche, mit versiegeltem Korken drauf, und drinnen ist eine feine, silberne Halskette mit einem kleinen, ovalen Medallion dran, leicht herauszunehmen. Ich nehme mein Messer und schnitze den Korken auf. „Darf ich das einfach so behalten?“ und Bertha hängt sie sich um. Das Medallion hat ein kleines Bild, ein alter, bärtiger Mann im weißen Turban, „sieht aus wie mein Opa.“

Die Flasche hat außerdem arabische Schrift, wahrscheinlich ebenfalls der Schriftzug Coca Cola, sieht so aus. Was für eine Begebenheit wohl dahinter steckt, und wie lange die Flasche wohl schon unterwegs ist und wo sein herkommen mag? Welche Wege? „Da komme ich mir ja klein vor gegenüber dieser Weltreisenden.“ Die Flasche ist ein wenig abgeschabt. Bertha nimmt sie mit in den Vogelsberg und stellt sie auf ihr Fensterbrett zuhause, alle Leute verwundern sich später über die Aufschrift in fremder Schrift.

Wir gehen weiter am Strand entlang und setzen uns an den Dünenrand und sehen dem schwindenden Lichtschein am Horizont nach. Bertha fragt mich, ob ich nicht auch mal schwimmen wollte – „eigentlich möchte ich dich auch mal nackt sehen, wollen wir zusammen?“ Ja, dann also, ausziehen und rein ins Meer – „eigentlich ist dies ja kein Meer sondern eine kleine Nebenbucht des Atlantik, na ja, aber im Vergleich zur Menschengröße . . .“ sagt sie.

Mit den Händen wischen wir einander das Wasser von den Körpern, dabei denke ich wieder an Frieda´s Körper und streiche an Bertha entlang und bleibe an ihrem Unterbauch liegen, stelle mir vor, daß es aus meiner Handfläche in ihren Leib strahlt. Wie im Freiburger Sommer so oft mit Frieda. Bertha bleibt stehen und gibt sich ganz hin, „ich ziehe mal eben mein Kleid über und deine Hand bleibt derweil da liegen, ja? Das ist sowas wunderbares, was du da machst.“

Ich erzähle von Frieda und was ich von ihr gelernt habe. Und daß sie zum Wintersemester auch in unsere Uni kommen will. „Dann können wir uns kennen lernen und ich kann von dieser klugen Frau solche Sachen lernen, wir drei zusammen?“

Dicht Körper an Körper gehen wir zum Schiff zurück, und ich fühle immer, wie ihr Leib so dicht neben meinem ist, oft streichen wir einander, besonders die Gesichter, „ich finde es schön, daß du ein so weiches Gesicht hast, fast kein Barthaar, bleibt dir das so? Ich möchte es, ich mag Bärte nicht so gerne.“ Seit Jahren wünsche ich mir das, im Gesicht wie ein Knabe zu bleiben, etwas weiblich, aber was kann man machen? Bisher blieb es so wie früher, doch langsam kommen da ein paar weiche Haare, ob die so weich bleiben werden?

Die ganze Nacht an Deck, acht geben, daß die Leinen immer in Ordnung bleiben und kein Hund an Deck springt. Einmal kommt ein größeres Schiff rein getuckert und legt an, ein kleiner Frachter, und wir stehen auf damit der Kapitän dort drüben sieht, daß wir wach sind und aufpassen. Unser „Peter“ wackelt und zockelt an seinen Leinen, doch alles bleibt wie es soll, alles sicher. Günther sieht kurz aus der Luke und ist beruhigt.

Morgens noch schnell zum Bäcker und frische Brötchen holen, „rundstykker“ wie die Dänen in ihrer luschigen Aussprache sagen. Bertha will bezahlen, doch ich sage das geht nicht, muß die Bordkasse zahlen sonst verlieren wir den Überblick und die Kosten sind ungerecht verteilt. Auf der Brötchentüte ist der Name des Ortes gedruckt – damit man weiß wo man gelandet ist, wenn ein Segler die Orientierung verloren hat, er müsste sich schämen zu fragen – sogenannte Brötchen-Navigation. Bertha lacht und wundert sich über diese eigenartigen „Sitten zur See“.

Mittags legen wir ab und segeln nordwärts, vielleicht werden wir nach Oslo einlaufen, aber da haben wir noch ein paar Tage Zeit. Und vorher tun  wir eine etwas peinliche Sache, wir laufen in den Nörholm-Fjord, eher eine kleine Bucht nahe der Stadt Grimstad. „Fjord? Ich denke, ein Fjord hat hohe Berge an den Seiten, aber dies hier?“ zweifelt Bertha. „Wozu fahren wir hier rein?“ Einer von uns, Axel möchte gerne diesen Ort besuchen, weil hier der Dichter Knut Hamsun gelebt hat, er ist vor drei Jahren gestorben, doch wir treffen seine Witwe Marie Hamsun, die uns das Haus zeigt.

„Ich lese Hamsuns Geschichten gerne, doch was ist dabei peinlich?“ Während des Krieges hat er sich sehr auf die Seite der deutschen Besatzer gestellt und damit sein Volk beleidigt. Das haben ihm die Norweger lange übelgenommen, und nun kommen wir als Deutsche wieder hierher in sein Haus – irgendwie gehört sich das nicht, sagt Olaf, der Älteste von uns jungen, Apotheker in Hamburg.

Wir sind das erste Mal in einem norwegischen Haus, viel Holz, hell angemalt, sehr gemütlich und auch schlicht, wenig aufwendig. Ein Schlösschen, altes Gutshaus.

Vorn am Bug hat der „Peter“ einen eisernen Korb, da sitze ich wie wir in den Nörholm-Fjord einlaufen, sehr langsam, sehr still. Sehe ins vorbeiströmende Wasser. Ich krame in meinen Hosentaschen  und finde ein altes Stück Papier, das ich achtlos ins Wasser fallen lasse – da entfaltet es sich und ist ein Fünf-Kronen-Schein, weg ist er.

Dann  die Fahrt durch den langen Oslofjord bis hin zur Stadt, die sich tief am Ende verborgen hat, sich aber an den Rändern nach oben an die Berge anlehnt. Anlegen im Yachthafen, ein paar Tage Pause nehmen wir uns vor, und die Stadt erleben. Mächtig stehen da die beiden kubischen Türme des Rathauses. Wir haben verschiedene Interessen, zwei wollen das Edvard Munch-Museum sehen, die meisten wollen in das Fram-Museum, wo das Forschungsschiff „Fram“ auf dem Trockenen in einer hohen Halle liegt, mit dem Fridtjof Nansen und andere Forscher ihre Polarmeer-Reisen gemacht haben. Wir können auch den Rumpf von  unten sehen und vergleichen mit der Rumpfform des „Peter“, der ja ganz anders aussieht. Unterschiedliche Weisen, einen  Rumpf gleichgewichtsstabil zu bauen.

Wir passieren vorher die Festung Oscarsborg, von wo aus das deutsche große Kriegsschiff „Blücher“ 1940 versenkt wurde, als versucht wurde, zu Beginn des Krieges nach Oslo reinzufahren. Das Wrack soll da immer noch am Grund des Fjordes liegen, grauslig. Mit 320 Toten.

Vier von uns – auch Bertha und ich – reisen ein wenig ins Land, nach Norden in die Gegend von Lillehammer mit der Bahn und bald wieder zurück, wir wollen uns nur die Landschaft betrachten. Am nächsten Tag sehen wir etwas Besonderes, eine norwegische Stabkirche, die vor Jahrzehnten von ihrem ursprünglichen Platz Gol hierhergesetzt wurde. Jemand sagte, ein wenig glatt sieht sie ja aus, seht erstmal die am Ursprungsort stehende von Borgund in Mittelnorwegen und andere. Doch wir müssen uns ein Buch im Museum kaufen . . . Das wird am Vogelsberg schon genug Staunen hervorrufen.

Diese echten Stabkirchen, wenn sie sich gut gehalten haben, „sehen aus wie ein umgedrehter Schiffsrumpf, ein wenig wie die „Fram“. Doch das Größte sind die Schnitzereien – und wie die sich durch die Jahrhunderte gehalten haben!“ In der Kirche setzen wir uns zusammen auf eine Bank und denken daran, wie oft und seit wie lange hier schon welche saßen, deftige Nordleute, auch mit ihren feinen Frauen und Kindern.

Vier Tage lang bleiben wir in dieser schönen und kulturreichen Stadt. Gingen doch noch in das Edvard Munk-Museum und manches andere. „Die Munk-Bilder könnten auch im etwas düsteren Vogelsberg entstanden sein,“ schwärmt Bertha.

Dann segeln wir wieder der Nordsee zu. Auf dem Weg nach Kristiansand besonders nachts weiter weg von der Küste, die wegen der vielen Schären, den Unterwasserfelsen nicht ohne Gefahr ist. Einen Tag haben wir Sturm gegenan, Sommersturm, nichts Schlimmes, kleines Starkwind-Tief in der mittleren Nordsee. Ich stehe mit Günther und Bertha am Kartentisch, und mir wird schlecht, seekrank. Um nichts zu versäumen, binde ich mir an einem Bindfaden eine leere Dose um, damit ich was zum Reinkotzen habe. Bertha merkt nichts und lacht in den Sturm hinein, wo sich Möven wirbeln lassen. Das Schiff  bockt auf und lässt sich krachend in die See fallen, wir wundern uns, daß nichts kaput geht. Es geht nun sehr langsam vorwärts.

Doch zwei Tage später stehen wir morgens vor Kristriansand in der Einfahrt in den Skjærgård (Schärenhof), damit bezeichnen sie diese riesige Ansammlung von kleinen, felsigen Inselchen. Nun nehmen wir einen Lotsen und lassen uns reinlenken, doch einen Schlepper benötigen wir wegen des nun günstigen Windes nicht, er ist südlich und sommerlich leicht und warm. Bertha steht neben dem Lotsen und lässt sich auf seiner Karte die Details zeigen. An Land hat jemand eine Adresse von Bekannten, etwas außerhalb der Stadt, und die besuchen wir, mit der ganzen Crew, denn wir finden jemanden, der das Schiff bewacht, schön so.

Erst mit einem offenen Taxiboot, dann an Land mit dem Bus weiter. Wunderschöne Bootchen haben sie hier, ganz aus Holz, zum Verlieben – auch DIE zum Verlieben. Ein altes Holzhaus, Blockhaus, immer brennt ein Herdfeuer, und auf dem Herd steht immer eine Emaillekanne mit Caffee bereit, könnten ja mal Gäste kommen. Das ist so Sitte hier, sagt die Gastgeberin, Fru Brandfru. Und sie holt ein paar Kuchen aus einem kühlen Raum. Wir genießen das alles sehr und sind gerührt, daß die Vergehen und Demütigungen  durch die deutsche Besatzung vor fünfzehn Jahren etwas zurückgestellt werden. Einigen von uns kommen die Tränen vor Rührung, und sie möchten sich vor Fru Brandfru hinknien und danken. Sie sagt, „das ist für mich nicht eine Frage der Nation sondern des einzelnen Menschen. Und gewiß habt ihr das alles nicht gemacht, seid ja noch zu jung. Ich bin dankbar, daß ihr gekommen seid und damit beitragt zur Völkerversöhnung.“

Für den nächsten Tag lädt sie uns ein zu einer Busfahrt ins Binnenland nach dem Sætesdal-Museum. Wir kommen an eine kleine Ansammlung von schweren, dunklen Blockhäusern mit einem weiten Überblick hinab ins Tal, südwärts in Richtung nach Kristiansand. Hier soll ein Ritter gelebt haben, der sich an den spanischen Erbfolgekriegen beteiligte und viel erbeutet hatte. Heute ist das einfach urgemütlich da drinnen, etwas klein zum Wohnen, na ja Studentenbude eben. Doch es soll eine Art Talsperre gewesen sein gegen Feinde aus dem Süden, vielleicht Dänemark oder Deutschland, das Tal ist gut zu überblicken, und Pfeile reichen so weit.

Nur ein oder zwei von uns waren je so weit gereist, in ein so wunderliches Land. Wunderlich wegen der alten Geschichten, wegen der Wikingerboote, den Stabkirchen, die wie umgedrehte Boote aussehen, die einfachen und einsamen Bauernhöfe und Sagen – ich denke an Henrik Ibsen´s Peer Gynt, die Kargheit der Landschaften, den Komponisten Edvard Grieg. In einem späteren Sommer wandere ich mal auf der HardangerVidda, eine Hochfläche von 1400 m über dem Meer. Mit Frieda, und wir fanden hier in der Einsamkeit seelische Nachrichten bis tief nach innen. Wir stiegen auch auf den höchsten Berg dort, den Hårteigen, einen 1700 m hohen Felsenberg, der aus der Weite wie ein Kasten aussieht und auf der Hochebene steht, Wahrzeichen dieser Landschaft, etwas weiter nördlich als das Sætesdal.

Das waren die Reisen ins Innere von Kristiansand aus. Wir laufen wieder aus und suchen uns einen Platz, um das Schiff zu pflegen, in einer vor´m Ostwind geschützten Bucht ankern wir. Abwechselnd ziehen wir uns aus und springen ins klare Wasser. Ich habe Schnorchel und Unterwasserbrille mit und sehe mir die Findlinge, das Seegras und die Algen an. Dazwischen schwimmen ein paar Wittlinge, Stichlinge und kleine Dorsche. Auch ein Steinbutt liegt auf einem Sandfleck und ist wegen seiner Tarnflecken kaum zu erkennen – nur, weil er sich mal bewegt und etwas Sand aufwirbelt, fällt er mir auf. Sonnenflecken flickern auf dem Grund. Bertha schwimmt heran und möchte sich Schnorchel und Brille aufsetzen. Sie ist begeistert von dem Leben im Wasser und beschließt am Abend, zusätzlich Meeresbiologie zu studieren.

Am Grund liegt eine rostige Ankerkette und eine versandete, offene Eisenkiste. Wir untersuchen sie, doch – wie erwartet – sie enthält keinen Schatz sondern nur verrostetes Werkzeug. Wir klettern wieder an Deck, und nun springen die anderen ins Wasser. Bertha und ich sind uns nun sehr nahe gekommen. Ich bewundere ihre Freiheit und Wärme uns Jungs gegenüber. Wie sie trocken ist, schlüpft sie wieder in  ihr Wollkleid und zieht die wollenen Strümpfe bis oben über die Beine. Wir Jungs tragen ja die Marineklapphosen und die weißen Takelblusen, auch an Land, vielleicht etwas angeberhaft, oder?

Am Morgen gehen Bertha und ich in die Felsen– eigenartig, was es hier für Felsen gibt. Aber das ist wohl meine Fantasie des Schreibens. Unser Weg dauert lange mit meiner Krücke. Wenn ich will, hilft sie mir, doch mein Freiheitsbedürfnis drängt mich, bis an die Grenzen zu gehen, und dann . . . die geliebte Hilfe.

Von oben sehen wir das Meer, die Schären, vorne ein paar Büsche und Häuschen in den Tälern. Moosflecken, Flechtenflecken, Gras, ein paar Grashüpfer, selten einen kleinen Schmetterling. Auf dem Meer ein paar Schiffe, und lassen die klare Luft in die Nasen.

Ein Moosfleck wird unser Platz. Meer und Himmel sind so blau, selbst die Möven strahlen das Blau des Meeres wider, Segel in der Nähe ebenso. Am fernen Strand liegt ein großes, rotes Strandgut – welch ein Gegensatz zum Blau.

Ich frage Bertha, „ziehst du nie Hosen an, immer nur ein Kleid, auch mal einen Rock?“ – „beides, aber nie Hosen. Ich habe keine. Vielleicht ist das ein Zeichen meines Frau-Gefühls? Viele Frauen tragen lange Hosen unter dem Kleid – für sie ist das übergezogene Kleid vielleicht ein Symbol  einer Art Zugehörigkeit. Nein, das ist es für mich nicht. Ich denke oft über meine Haltung nach. Viele Frauen im Vogelsberg tragen nur Kleider, auch besondere Trachten. Irgendwie ist es ein ganz eigenes Gefühl, das mit dem Kleid. Hosen sperren unten so ab.“

„Es gibt auch Männer-Trachten bei uns.
So wie ich diese schwarzen Wollstrümpfe trage –  kurze Socken oder ganz lange –,  so alle Frauen und Kinder. Das machen die Schafe.“

Wir sitzen auf dem trockenen Moos. Bertha zieht ihr Kleid hoch und zeigt mir ihre Stümpfe, ganz oben zwei Knöpfe angenäht, und daran sind weiße Gummilitzen angeknöpft, die unter dem Kleid verschwinden.

Es ist so schön und warm mit ihr, ich sehe auf Bertha´s Haare und eine kleine goldene  Spange in ihnen. Ihre freie Art macht auch mich frei. Gerne möchte ich ihre Haare streichen. Ich lasse es zu, wie Bertha meine Hose aufknöpft und die Klappe nach unten klappt. Da habe ich nichts weiter auf dem Leib. Das ist mir nicht so peinlich wie ich gedacht hätte. Sie sieht sich an, was sie gefunden hat und sagt, „sieh, auch ich habe nichts weiter an. Ich trage fast nie etwas unter Kleid und Hemden – schon gerade nicht auf einer so schönen Fahrt.“ – Sie setzt sich auf meinen Schoß, wobei sie ihr Kleid nach hinten rafft. An ihre Strümpfe hat sie oben einen roten Rand gestrickt, so sitzen wir lange Zeit still, und es ist als wenn ein Liebesstrom von ihrem Körper in meinen fließt, und von meinem in ihren.

„Ich trage ein Höschen nur“ sagt sie, „wenn ich blute. Dann fange ich alles Blut auf und bringe es in den Wald, es ist so heilig! – oder hier ins Meer.“

„Es ist dann ja nicht mein Blut, sondern es wurde mir von der Großen Mutter anvertraut – so sehe ich das.“

Mir ist das alles so neu. Ihre Art und Anschauung ziehen mich an. Diese Frau liebe ich, weil sie so Frau ist. Doch was ist dieses Frau-Sein? Nicht die Kleidung sondern ihre Freiheit, das zu leben und darüber zu sprechen.

„Seid ihr alle so im Vogelsberg?“ – „Nein, außer der schwarzen Wolle und den Trachten sind die Leute bei uns wie überall, nur ich bin eben sehr viel anders. – Und wo kommst DU her?“ fragt Bertha. – „Ich bin hier von der Küste. Seit der Jugend segele ich, meistens kleine Boote. Doch seit ich in dieser Stadt lebe, segele ich meistens auf diesem großen Schiff. Oder mehr, ich kümmere mich um die Pflege und Instandsetzung der Boote, organisiere das. Man nennt meinen Job hier im Verein Takelmeister, das tue ich seit einem halben Jahr. Zum Hochseesegeln komme ich da kaum. Alles neben dem Studium. Das passt auch zusammen, Meereskunde studieren und etwas von der Technik der Seefahrt lernen. Etwas habe ich deswegen das eigentliche Studium versäumt, war auch wichtig, diese Erfahrungen.“

„Wir kann dein gelähmter Körper das alles?“ – „Ach, da kann ich nicht so viel sagen, ist wohl ein angeborener Mut oder Wille oder sowas,“ und das macht mich verlegen.



Später fragt sie mal, „hast du keine Angst, mir so schnell so nahe zu kommen? Viele Menschen sind da voller Angst. Sie ziehen sich immer wieder zurück. Ein bißchen Nähe, und schon sind sie wieder weg.“

Ich frage, „hast DU keine Angst? Hier muß doch alles so fremd sein für dich. Diese Männer, dieses Segeln – ein Reisen auf völlig andere Art, sich einem Land auf diese Weise zu nähern . . .“

„Ja, eigenartig ist das schon, unbekannt. Je mehr ich meine Seele dem öffne, desto eigenartiger.“

„Doch,“ sagt Bertha, „ich will dir was erzählen. Ich kenne einen alten Mann, der wohnt allein in einem alten Haus bei uns. Ich bin gerne bei ihm und höre ihm zu.

Er sagte mir mal: das Gegenteil von Angst ist Hingabe oder Liebe.“

Ich frage, „Hingabe an was?“ – „Ja das ist es: nur Hingabe, wie immer die Lage ist. Hingabe ist auch Offenheit, offene und große Augen, offene Ohren und so weiter. Wachheit. Und das ist auch Liebe, so wie er es meint.

Der unterteilt die Menschen in solche, die ihr Leben an der Angst ausrichten und solche, die es an der Hingabe und Liebe ausrichten.“

Ich sage, „das müssten  die Leute in unserer Crew auch mal hören. Vielleicht, mal sehen ob es eine Gelegenheit gibt.“

Und dann sagte Bertha, „ich habe beobachtet: die Menschen der Angst sind Nein-Menschen. Bittest du sie um etwas, sagen sie erstmal nein. Es kommt ganz schnell. Oft kommt dann ein zögerndes Ja hinterher. Und sie sind so vorsichtig, daß sie viele Gelegenheiten des Lebens verpassen. Oft, wenn sie doch noch ja sagen, dann weil es sich so gehört.

Doch die Menschen der Liebe sind Ja-Menschen. Sie riskieren vieles, nur um zu erleben und zu genießen. Sie können sich fallen lassen, sind weich, sind wie ein Fluß, der alle Gegebenheiten wie Felsen, Sandbänke, ertrunkene Baumstämme . . . annimmt, lustig umfließt. Und weiter fließt.“

Ich überlege: der große Krieg mit seinen Grausamkeiten und Qualen ist erst zwölf Jahre vorüber. Wer dabei war, muß doch voller Angst stecken. Ich frage Bertha, und sie sagt: „mein Vater war als Soldat im Krieg, in Schlachten und in sehr ärmlichen Verhältnissen in der Gefangenschaft. Doch wie er zurück kam – er lief tausende von Kilometern zu Fuß –, war er noch voller Liebe. Verwundet an Leib und Seele, doch voller Liebe. Es war da keine Angst, nur Liebe, und diese offenen, großen Augen.

Er kam an, in Lumpen, ungepflegtes Gesicht, wie sollte es anders gehen? Doch die Augen strahlten, und er war voller Hingabe an das Leben und seine Schönheiten. Ich fragte ihn später mal, und er sagte, anders hätte er das nicht überstanden. Er hat oft geweint vor Freude und Liebe, wie er sagte.“

„Und was ist die Liebe zwischen zwei Menschen?“

„Sie ist – so sagte der Alte – nur möglich, wenn die allgemeine Hingabe und Liebe schon da sind. Nur dann können zwei Menschen ineinander versinken. Sonst treffen sie sich eher an der Oberfläche – und fallen wieder auseinander. Fallen oft in heftigem Streit auseinander.“

„Ich glaube,“ sage ich „von Angst kommt Mißtrauen. Oder Mangel an Vertrauen. Und von Liebe kommt Vertrauen – Vertrauen in meine eigenen Kräfte, in mein Schicksal, in andere Menschen. Vertrauen daran, daß alles recht ist.“

„Ja selbst, wenn das Schicksal mal sehr schwer ist – wie damals bei meinem Vater und meiner Mutter. – Wie ist deine Kindheit gewesen, Stephan?“

Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, weil es mir so gut ging. „Vor dem Kriege, als ich fünf war und meine Schwester drei, gelang es meinen Eltern, eine Einladung nach Indien zu bekommen. Ohne Einladung und bei voller Übernahme der Kosten durch die Gastgeber konnte man ja nicht ausreisen. Wir Kinder reisten mit auf einem Schiff von Genua nach Cochin. Und von dort weiter mit der Bahn nach Madras.“

„Und was wollten eure Eltern in Indien?“

„Antike Stätten besuchen – das war ihr privates Interesse. Und erkunden, was von den jahrtausende alten heiligen Stätten im Leben der heutigen Inder nachgewirkt hat. Hauptsächlich suchten sie einen später berühmt gewordenen Heiligen in der Nähe von Madras auf, er hieß Ramana. Er lebt nun nicht mehr.“

„Wenn du mehr weißt, Stephan, möchte ich das hören. – Aber erstmal: bliebt ihr in Indien?“

„Als der Krieg begann – ich war sechs –, wurden wir festgenommen. Mein Vater kam in ein großes Lager in Dehra Dun, meine Mutter und wir Kinder durften bei Freunden in der Nähe des Lagers bleiben, privat untergebracht, doch Hausarrest, wir durften nicht raus, außer gelegentlich unseren Vater besuchen, mit Polizei-Begleitung. Immerhin gab es einen großen Garten hinter dem Haus, eine Art Park, das war gut.“


 
Auf diesem Bild seht ihr am Ruder den Eckart Breuer.

Bald segeln wir wieder in Richtung Kiel, ostwärts durch´s Skagerrak und dann südwärts an Skagen vorbei und schließlich in den Kleinen Belt. Das Schiff scheint´s genießt diesen Törn vor dem nördlichen Wind und gleitet über die von hinten auflaufenden Wellen. Nun haben wir keine Lust mehr die am Wege liegenden Häfen zu besuchen, die Erlebnisse in Norwegen waren zu groß.

Da wir viel Zeit haben legen wir uns noch drei Tage in eine Bucht vor der Einfahrt nach Augustenborg und bleiben alle an Bord – Erholung nötig? Manche mögen aber Takelarbeiten lieber tun, besonders Bertha, die sich vieles zeigen lässt und am Ende der drei Tage bei Augustenborg manchen Spleiß gemacht hat. Günther schenkt ihr als Prämie ein neues Takelmesser, das er als Schiffer nicht braucht, mit besonders schön geflochtener Schnur aus weißer Baumwolle, alter Plating. Sie ist stolz und sieht mir schräg in die Augen, „warst du auch so schnell?“ 


In jenen Tagen sangen wir manche Lieder, alte Seemannslieder, Studentenlieder, Volkslieder . . . Wir hatten uns ein Liederbuch gemacht, aus dem ich euch die folgende Seite mitgebe, mit einer Zeichnung des Peter“.



Hinterher zelebriert Bertha einen Kuchen und deckt im Cockpit eine ausführliche Tafel – inclusive ein  wenig Kintore Whisky, der Rest. Da wir aber nicht neun Whisky-Gläser haben, darf ich mir eins mit ihr teilen – welche Ehre, und welche Liebe!


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Diese Geschichte ist erfunden, doch solche Reisen haben wir von Kiel aus gemacht. Bertha gab es nicht wirklich, nur meine Sehnsucht nach einer solchen Frau auf dem „Peter“. - Nehmt die geschichtlichen und geographischen Informationen nicht wörtlich, sie sind ungenau.

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"Peter von Danzig" etwa 1958




Endlich denke ich daran, den Werftarbeitern und Ingenieuren auf der Danziger Werft, die den Bau dieses schönen Schiffes 1936 begleitet haben, und den Werftarbeitern und Ingenieuren in Kiel, die uns bei den jährlichen winterlichen Instandsetzungen des „Peter“ ab 1946 unterstützt haben, zu danken.

Und auch Dank an Wolfgang Vogt, der mir jedes Jahr zum Wechsel einen seiner schönen Linolschnitte geschickt hat - immer ein Segelschiff, ich habe eine ganze Sammlung

 

Stefan Wellershaus, Takelmeister 1957




von Wolfgang Vogt, Strande, „Peter“ in schwerer See vor Sturmsegeln







Katteby – ein erfundener Ort auf Sjaellands Odde.



Während der Seereise mit Bertha schrieb Karl, der sich literarisch beschäftigt, eine kleine, ergänzende Geschichte:



Landfall in Katteby



Bei angenehmem West 4 zieht der „Peter“ hinaus ins Kattegat. Der Große Belt mit den Fährdampfern zwischen Korsör und Nyborg liegt hinter uns. Wir segeln mit vollem Zeug, Mit dem Ballon an Steuerbord. Bertha, unser aller Liebling vom Vogelsberg sitzt im Bugkorb –  „ . . . ansich recht öde hier auf dem Meer – doch da: ein Eissturmvogel, sieht der niedlich aus! Der erste, den ich leibhaftig sehe.“  Und dann zeigt sie nach vorne backbord und schreit,  „da, ein Boot, ein Paddelboot mit zwei Leuten. Sie winken.“  Wir halten drauf zu und wissen sofort, das sind Schiffbrüchige. Da gibt es was zu tun!

Wie kommen näher und sehen zwei Knaben im Kajak, etwa 14 oder so. Sie winken und hoffen gewiß, daß wir sie aufnehmen, retten. „Die müssen wir retten,“ ruft Günther, der Schiffer,  „– klar zum Manöver!!!“

Wie wir in die Nähe kommen, rufe ich „wir kommen,“ auf Dänisch „vi komer“; das ich vor ein paar Jahren etwas gelernt hatte. Doch der Peter“  muß erst gebremst werden. „Ballon bergen!“ Und das dauert gewiß eine viertel Stunde. Bei dem Kajak hatten wir schnell einen Rettungsring, und dann noch einen ins Meer geworfen und eine leere Holzkiste, als weit sichtbares Signal, denn wir müssen einen weiten Kreis segeln . . .

„Großsegel bergen!“ ruft Günter, und das Großsegel fällt schnell herunter und liegt nun etwas unordentlich an Deck. Dazu drehen wir den „Peter“ für einige Minuten in den Wind, und fallen gleich wieder ab, auf Ostkurs, vor dem Wind. Nach ein paar Minuten weiter Abfallen, eine Halse, und nun liegen wir auf  Südkurs, langsam mit kleiner Segelfläche: Fock, Flieger und Besan. Ein wenig zurück in den Großen Belt hinein – bis wir schätzungsweise in die Nähe der Kiste kommen, dann nach einer Wende wieder auf den alten Nordwest-Kurs, mit kleiner Segelfläche, nun langsam. Jemand ruft,  „da dümpelt die Kiste. – und der Kajak liegt daneben“. Und sie winken. Wir segeln noch ein kleines Stück weiter und drehen dann in den Wind, lassen uns achteraus langsam auf den Kajak zutreiben. Mit Hilfe der Segel halten wir den „Peter" in eine günstige Position, so daß der Wind immer genau von vorne kommt. Bertha hält vom Bugkorb aus den Treibanker ins Wasser und bindet ihn fest, damit das Treiben vor dem Wind noch langsamer ist.

Der Treibanker ist ein kräftiger Segeltuchsack an einem langen Seil.

Inzwischen hatten wir unser dickes Beiboot fertig gemacht und lassen es nun an Backbord ins Wasser, und hängen daneben die Jacobsleiter außen an die Bordwand. Günter steuert den „Peter“ ganz in die Nähe der Jungs. Zwei von uns springen ins Beiboot und rudern auf die beiden Jungen zu. Dann holen die beiden Ruderer die Jungs ins Beiboot und nehmen den Kajak auf den Haken. Und sammeln die Rettungsringe wieder ein. Und rudern zurück zum „Peter“.

Mühselig steigen die beiden Schiffbrüchigen die Jacobsleiter hoch, werden an Bord gezogen und fallen erschöpft an Deck. Dann den Kajak und die Ringe an Bord, doch das Beiboot lassen wir draußen und nehmen es in Schlepp. Die Jungs kriechen ins Cockpitt, wo Günter sie feierlich begrüßt, indem er seine Schiffermütze zieht. Später wird Bertha sich um sie kümmern. Erst aber muß sie den Treibanker einholen, was sie nur mit Hilfe eines zweiten Seiles kann, das am hinteren Ende befestigt ist. Dann holt sie Decken und wickelt die beiden ein, erschöpft sinken sie in Bertha´s Arme und weinen.

Wir fragen sie, wo sie eigentlich hin wollen, nach Katteby (ein von mir erfundener Name). Sie wissen kaum, wo das liegt. Das ist nicht weit, doch wir müssen auf der Seekarte und im Handbuch für Seefahrer suchen, und erkunden, ob der Hafen für den „Peter“ möglich ist und so weiter. Günter und Olaf beugen sich über den Seekartentisch und planen den neuen Kurs, erstmal ostwärts. Das Großsegel wird wieder geheißt und Kurs auf Sjællands Odde genommen, eine schmale Halbinsel, dort liegt der Hafen, in der Nähe von Kalundborg. Die Situation dieses kleinen Fischerboot-Hafens Katteby wird ähnlich sein wie neulich in Bagenkoop. Es sind jedoch von außen fast keine Masten zu sehen, also viel Platz.

Noch bevor die Odde (Landspitze) in Sicht kommt, überholt uns ein knallrotes Motorboot mit der Aufschrift "Falck", das ist ein dänischer Rettungsverein. Die Leute kommen heran und fragen nach den beiden Jungen. Sie wären vermisst und werden von ihren Eltern gesucht. Sie würden sie übernehmen, doch Günter lehnt das ab und sagt, das machen wir schon. Das Falck-Boot fährt schnell voran und bereitet unsere Ankunft im Hafen vor. Vier Stunden nach dem Beginn der Rettung machen wir in Katteby fest.

Da stehen viele Leute auf der Pier, besonders ein Mann, der schnell an Bord springt und die beiden Knaben in die Arme nimmt. Alle drei weinen, und wir stehen verlegen abseits und räumen das Schiff  auf. Legen den Kajak auf die Pier und ziehen unser Beiboot an Deck.

Der Mann ist ein Onkel der beiden Jungen und sagt, die Eltern hätten alle Bekannten und Verwandten auf die anliegenden Häfen verteilt, um ihre Kinder zu finden. Er schüttelt jedem von der Crew die Hand und lädt uns zu einem Dankes-Essen in ein Restaurant ein, den Ørred-Kro in Katteby. Wir lehnen ab, wir sind zu müde. Da lässt er eine Riesen-Platte mit Smørbrød bringen, und an Deck erfreuen wir uns an dieser dänischen Spezialität. Die Jungs hatten wir inzwischen in Kojen gelegt, wo sie viele Stunden lang ausschlafen.

Noch am Abend geben wir den Falck-Leuten und der Wasser-Polizei zu Protokoll, was zu berichten ist. Die Eltern lernen wir nicht mehr kennen, wir laufen schon am nächsten späten Vormittag wieder aus. Und sie kommen wohl später. Wie wir Wochen später wieder in Kiel ankommen, finden wir auf dem Vereins-Konto einen großen Geldbetrag für unsere Bootspflege, Dankesspende von den Eltern. Und ein paar Kartons mit feinem, dänischen Bier hat jemand vorbei gebracht.



– Diese Geschichte habe ich von A bis Z erfunden, sie hätte aber so geschehen sein können.

Karl von der Peter-Crew – nachträglich aufgezeichnet im Oktober 2014.





Andere „Peter“-Reisen: "Sailing to the Shetlands" by Reinhard Zollitsch:
http://www.zollitschcanoeadventures.com/articles/shetland.html .
Weitere: schreibt´s in die Kommentare.



Noch ein Hinweis auf die Internetseite des studentischen Segelvereins, in dem ich damals segelte:
http://www.asv-kiel.net/pages/asv-kiel.php   .
neu: www.asv-kiel.de .


3 alte Kommentare:


Aryaman Stefan Wellershaus hat gesagt…
Inzwischen hat Max Vogt, Wolfgang´s Sohn, mir die Adresse der Sammlung von vielen der Linolschnitte gegeben: http://www.andreaschoening.de/wvogt/Druck_Stock/druck_stock.html Seht mal rein. Danke Max.
ceheomsk hat gesagt…
Thank you for sharing the info. I found the details very helpful. cheap clomid
Aryaman Stefan Wellershaus hat gesagt…
hallo ceheomsk, thank you for reading and commenting. But be careful, the nautical infos may not be exact. This is in the first line a love story, not a seafarer´s nautical experience. Greetings from Stefan in Wismar
- although, ceheomsk, I am both, a scientific seafarer (marine biologist) and a spiritual lover.
10. April 2013 02:01



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Bertha´s Bilder aus dem alten Sætesdal

Über alle meine Blogs findet ihr eine Liste unter;

















Der Voringfoss  -  Wasserfall bei Eidfjord
(späteres Bild)







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